Elisabeth Selbert
von Cornelia Wenzel
Elisabeth Selbert war eine Politikerin und Juristin aus Kassel. Bei der Formulierung des Grundgesetzes der BRD initiierte sie die Verankerung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern.
Für die Mobilisierung der Frauen
Geboren wurde Elisabeth Selbert als Martha Elisabeth Rohde am 22. September 1896 in Kassel. Sie war die zweite von vier Töchtern des Justizbeamten Georg Rohde und seiner Frau Elisabeth. Nach dem Besuch der Volksschule wechselte sie auf die Realschule, die sie ohne Reifezeugnis verließ, was sie später als „ein bitteres Unrecht“[2] bezeichnete. Da ihr die Eltern den Besuch eines Gymnasiums nicht ermöglichen konnten, besuchte sie die Gewerbe- und Handelsschule des Kasseler Frauenbildungsvereins. Eine Stelle als Fremdsprachensekretärin verlor sie mit Beginn des Ersten Weltkrieges; erst ab 1916 war sie im Telegrafendienst der Post tätig. Dort lernte sie Adam Selbert kennen, den sie 1920 heiratete. Wie ihr Mann wurde Elisabeth Selbert Mitglied der SPD und engagierte sich in Kassel und Niederzwehren, dem gemeinsamen Wohnsitz, für die Mobilisierung der Frauen, die sie – als das Frauenwahlrecht eingeführt wurde – zum Gebrauch des neu gewonnenen Rechtes aufrief.[3]
Auf dem Weg zur eigenen Kanzlei
Während ihrer Tätigkeit als Kommunalpolitikerin stellte Elisabeth Selbert fest, dass eine politische Mitarbeit fundierte fachliche Kenntnisse erforderte[4], sodass sie sich zur Aufnahme eines Universitätsstudiums entschloss. Dafür holte sie zunächst ihr Abitur nach, das sie 1926 als erste Frau in Kassel in einer externen Prüfung bestand. Im selben Jahr begann die zweifache Mutter ein Studium der Rechts- und Staatswissenschaften in Marburg, das sie in der Regelstudienzeit von sechs Semestern abschloss; die Dissertation über [„Ehezerrüttung als Scheidungsgrund“] folgte im siebten Semester. Während dieser Zeit konnte sie auf die Unterstützung ihrer Eltern und ihres Mannes bauen, die sie im Haushalt entlasteten und die Kinder betreuten.[5]
Dass sie noch 1934 als eine der letzten Frauen zur Anwaltschaft zugelassen wurde, hatte Elisabeth Selbert zwei älteren Richtern des Kasseler Oberlandesgerichts zu verdanken, die die Zulassung in Abwesenheit des Präsidenten aussprachen. So konnte Selbert im gleichen Jahr in Kassel ihre eigene Kanzlei mit dem Schwerpunkt Familienrecht eröffnen.[6] Diese florierte während des Krieges, u.a. weil viele männliche Kollegen zum Militärdienst einberufen worden waren.[7] Unter der NS-Herrschaft erlebte Selbert als Anwältin, wie SA-Leute im Gerichtssaal saßen und die Gestapo die Rechtsprechung überwachte.[8] Später berichtete sie von „kleinen Widerstandsleistungen“[9] einiger Anwälte, die bemüht waren, ihre Mandanten vor der KZ-Haft zu bewahren.
Eine der Mütter des Grundgesetzes
Als politisch Unbelastete konnte Elisabeth Selbert bald nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ihre Kanzlei wiedereröffnen. Gleichzeitig führte sie ihr politisches Engagement fort, das mit ihrer Entsendung in den Parlamentarischen Rat nach Bonn einen Höhepunkt fand. Als eine von vier Frauen – neben ihr gehörten auch Frieda Nadig (SPD), Helene Weber (CDU) und Helene Wessel (Zentrum) dem Rat an – arbeitete Selbert in mehreren Fachausschüssen. Bekanntheit erlangte sie jedoch vor allem durch ihren Einsatz für die Formulierung des Artikel 3 Absatz 2 des [Grundgesetzes]: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ Nachdem ihr Vorschlag zweimal abgelehnt worden war, wagte sie den ungewöhnlichen Schritt an die Öffentlichkeit und bewirkte einen Beschwerdesturm von Frauenverbänden und Einzelpersonen, die Petitionen an den Parlamentarischen Rat schickten, um Selbert in ihrem Anliegen zu unterstützen.[10] So gelang schließlich in der entscheidenden Sitzung am 18. Januar 1949 die Annahme des Gleichheitsgrundsatzes als unveräußerliches Grundrecht. Die Aufnahme des Satzes bedeutete die Verpflichtung des Gesetzgebers, alle dem Prinzip der Gleichberechtigung entgegenstehenden Gesetze anzupassen.[11]
Ein unermüdlicher Einsatz für (gleiche) Rechte
Elisabeth Selbert musste nach dem Krieg feststellen, dass das Thema Gleichberechtigung für viele Wähler und vor allem Wählerinnen nicht von Interesse war; man konzentrierte sich zunächst auf den Wiederaufbau des Landes.[12] In der Überzeugung, dass der Kampf um Gleichberechtigung „nicht Männer- sondern Frauensache“[13] sei, richtete Elisabeth Selbert noch Jahrzehnte später an Frauen den Appell, sich stärker politisch zu organisieren.[14] Während ihrer Zeit im Wiesbadener Landtag widmete sie sich selbst einer Vielzahl von Angelegenheiten, die nicht nur „Frauenthemen“ waren. So galt ihr Einsatz beispielsweise der Entnazifizierung, der Verbesserung der rechtlichen Lage psychisch kranker Menschen sowie dem sozialen Wohnungsbau.[15]
In ihrer Kanzlei, die sie bis ins 86. Lebensjahr führte, verschrieb sich Elisabeth Selbert, die für eine abgeschlossene Berufsausbildung von Frauen vor der Ehe plädierte, vor allem der Ausbildung junger Anwältinnen.[16] Die „,Familienrechtlerin aus Erfahrung und Staatsrechtlerin aus Passion‘“[17] verstarb am 9. Juni 1986 im Alter von 89 Jahren in Kassel.
Würdigungen und Nachlass
1956 war Elisabeth Selbert das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland verliehen worden, 1969 erhielt sie den Wappenring der Stadt Kassel, 1978 die [Wilhelm-Leuschner-Medaille] des Landes Hessen. 1984 wurde sie Ehrenbürgerin ihrer Heimatstadt Kassel. Ein Jahr zuvor hatte das Land Hessen den Elisabeth-Selbert-Preis ins Leben gerufen, der an Journalistinnen und Wissenschaftlerinnen verliehen wird. Im Jahr 2001 wurde die Ariadne, Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte, herausgegeben vom Archiv der deutschen Frauenbewegung, mit dem Elisabeth-Selbert-Preis ausgezeichnet. Aus Anlass des 100. Geburtstags von Elisabeth Selbert im Jahr 1996 war die 30. Ausgabe der Ariadne dem Thema „Den Frauen ihr Recht - Zum 100. Geburtstag von Elisabeth Selbert“ gewidmet. 25 Jahre später realisiert das AddF zusammen mit der Stadt Kassel und den beiden Kasseler Trickfilmerinnen Katrin Nicklas und Frauke Striegnitz einen Animationsfilm zum Leben von Elisabeth Selbert. Im Rahmen des Festaktes besuchte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das Archiv der deutschen Frauenbewegung und ließ sich Dokumente aus dem Nachlass zeigen. Auch die erste Social Media Jahresreihe des AddF beleuchtete unter dem Namen "#125JahreSelbert" verschiedene Schwerpunkte aus dem Leben der Rechtsanwältin.
In Kassel gibt es inzwischen eine Elisabeth-Selbert-Promenade, ein Elisabeth-Selbert-Bürgerhaus, einen Elisabeth Selbert-Flügel im Rathaus, einen Elisabeth-Selbert-Saal im Bundessozialgericht und seit 2021 auch eine Elisabeth Selbert Statue am Scheidemannplatz. In mehreren anderen Orten sind Schulen nach ihr benannt.
Elisabeth Selberts Nachlass liegt im Archiv der deutschen Frauenbewegung und kann online in einem Findbuch recherchiert werden.
Der Nachlass, der dem Archiv der deutschen Frauenbewegung im Januar 2000 von der Familie Selbert als Schenkung übergeben wurde, umfasst 13 laufende Meter Archivgut und sechs laufende Meter Bibliotheksgut in insgesamt 137 Archivkartons und hat eine Laufzeit von 1912-1996. Er dokumentiert Elisabeth Selberts Tätigkeit im Parlamentarischen Rat, in der [Verfassunggebenden Landesversammlung von Groß-Hessen], im Hessischen Landtag, in den Gremien der Sozialdemokratischen Partei sowie in verschiedenen Vereinen und Verbänden. Er enthält außerdem private Korrespondenz, Unterlagen aus dem Jurastudium und dem Referendariat sowie Unterlagen aus ihrer beruflichen Tätigkeit als Anwältin. Neben Büchern, Zeitschriften und Broschüren gibt es zahlreiche Sammlungen von Zeitungsausschnitten zu juristischen, frauenpolitischen und allgemeinpolitischen Themen. Vieles davon scheint als Grundlage für Artikel und Vorträge gedient zu haben, zu denen sich auch Manuskripte und Notizen finden.
Dem Nachlass beigefügt ist eine kleinere Sammlung Schriftgut ihres Ehemannes, des Landesrates Adam Selbert. Der Nachlass war verschiedentlich, jedoch nicht konsequent vorgeordnet, sowohl von Elisabeth Selbert selbst als auch nach ihrem Tod von Familienmitgliedern. Diese Vorordnung wurde weitmöglichst respektiert und übernommen, aber auch teilweise zugunsten der klareren Strukturierung und Nutzbarkeit des Nachlasses behutsam korrigiert. Die Klassifikation ist sozusagen die konsequente Fortführung der vorgefundenen Ordnungsansätze.
Fußnoten
#125JahreSelbert Social-Media Jahresthema von 2021 anlässlich Elisabeth Selberts 125. Geburtstag
Lebenslauf
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1896 Am 22. September kommt Martha Elisabeth Rohde in Kassel zur Welt. Sie ist die zweite von vier Töchtern des Justizbeamten Georg Rohde und seiner Frau Elisabeth, geb. Sauer.
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1912 Als Mädchen muss Elisabeth Selbert die Realschule ohne Mittlere Reife verlassen. Da ihre Eltern den Besuch eines Gymnasiums nicht finanzieren können, besucht sie für ein Jahr die Gewerbe- und Handelsschule des Kasseler Frauenbildungsvereins.
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1913 Elisabeth Selbert findet Anstellung als Auslandskorrespondentin bei der Kasseler Import- und Exportfirma Salzmann & Co. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs verliert sie ihre Stelle.
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1916 Beschäftigung im Telegrafendienst der Post.
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1918 Eintritt in die SPD.
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1920 Heirat mit Adam Selbert.
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1921 Geburt des Sohnes Gerhart.
Elisabeth Selbert spricht als Delegierte anlässlich der ersten Reichsfrauenkonferenz, die in Kassel stattfindet. -
1922 Geburt des Sohnes Herbert.
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1926 Elisabeth Selbert besteht als erste Frau in Kassel die externe Abitur-Prüfung.
Aufnahme eines Jura-Studiums in Marburg. -
1929 Erstes juristisches Staatsexamen in Kassel.
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1930 Elisabeth Selbert promoviert in Göttingen zum Thema „Ehezerrüttung als Scheidungsgrund“.
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1933 Adam Selbert wird von den Nationalsozialisten seines Amtes als stellvertretender Bürgermeister von Niederzwehren enthoben. Die Familie ist nun auf das Einkommen Elisabeth Selberts angewiesen.
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1934 Selbert legt ihr zweites juristisches Staatsexamen in Berlin ab. Sie wird als Anwältin zugelassen und eröffnet in Kassel eine eigene Kanzlei mit dem Schwerpunkt Familienrecht.
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1943 Bei einem alliierten Luftangriff auf Kassel wird die Kanzlei Selberts zerstört.
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1945 Zulassung als Strafverteidigerin am amerikanischen Militärgericht und Wiedereröffnung der eigenen Kanzlei.
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1946 Elisabeth Selbert wird Mitglied der verfassungsgebenden Versammlung des Landes Hessen sowie des SPD-Parteivorstandes, dem sie bis 1955 angehört. Sie wird außerdem in die Stadtverordnetenversammlung der Stadt Kassel gewählt.
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1948 Als Mitglied des Parlamentarischen Rates ist Elisabeth Selbert an der Ausarbeitung eines neuen Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland beteiligt. Ihrem Einsatz ist die Aufnahme der Formulierung „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ (Art. 3 Abs. 2) zu verdanken.
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1949 Das Grundgesetz wird am 23. Mai verkündet.
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1956 Elisabeth Selbert erhält das Große Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland.
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1965 Tod Adam Selberts.
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1969 Verleihung des Wappenringes der Stadt Kassel.
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1978 Auszeichnung mit der Wilhelm-Leuschner-Medaille des Landes Hessen.
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1983 Das Land Hessen initiiert den Elisabeth-Selbert-Preis, der an Journalistinnen und Wissenschaftlerinnen verliehen wird.
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1984 Verleihung des Ehrenbürgerrechts der Stadt Kassel.
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1986 Elisabeth Selbert stirbt am 9. Juni. Sie hat ein Ehrengrab auf dem Friedhof in Kassel-Niederzwehren.
Digitalisate (Auswahl)
Ausweis für die Verfassungsberatende Landesversammlung in Hessen, 1946
Schreiben der Belegschaft der Firma Henschel an den Parlamentarischen Rat, 1949
Elisabeth Selberts Exemplar des Grundgesetzes mit handschriftlichen Kommentaren, 1949
Recherche
Im Online-Katalog META sind Literaturnachweise, Materialien und Digitalisate zu Elisabeth Selbert zu recherchieren
Literatur von Elisabeth Selbert (Auswahl)
Selbert, Elisabeth: Ehezerrüttung als Scheidungsgrund [Dissertation], Kassel 1930.
Selbert, Elisabeth: Zur Entstehung von Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat (1978), in: Dorothea Frandsen / Ursula Hoffmann / Annette Kuhn: Frauen in Wissenschaft und Politik, Düsseldorf 1987, S. 68-74.
Open Access Artikel
Literatur über Elisabeth Selbert (Auswahl)
Barthel, Elke: Dr. Elisabeth Selbert, in: Sabine Köttelwesch / Elke Böker / Petra Mesic (Hg.): 11 Frauen, 11 Jahrhunderte, Kassel 2013, S. 149-163.
Böttcher, Hans-Ernst: Elisabeth Selbert. Mehr als nur die „Mutter des Grundgesetzes“, in: Antje Peters-Hirt / Brigitte Templin (Hg.): „Vom Bewußtsein der weiblichen Würde“. Dokumentation Stadtprojekt in Lübeck. „Dem Reich der Freiheit werb' ich Bürgerinnen", Lübeck 1997, S. 125-135.
Böttger, Barbara: Das Recht auf Gleichheit und Differenz. Elisabeth Selbert und der Kampf der Frauen um Art. 3 II Grundgesetz, Münster 1990.
Dertinger, Antje: Elisabeth Selbert. Eine Kurzbiographie, Wiesbaden 1986.
Hessische Landesregierung (Hg.): „Ein Glücksfall für die Demokratie“. Elisabeth Selbert (1896-1986). Die große Anwältin der Gleichberechtigung, 2., unveränderte Aufl., Wiesbaden 2008.
Jank, Dagmar: Die Frauenrechtlerinnen Minna Cauer (1841-1922) und Elisabeth Selbert (1896-1986), in: Helene Klein / Klaus Krone (Hg.): civitas. Denkimpulse und Vorbilder, Potsdam 2003, S. 44-51.
Renger, Annemarie: Das Grundgesetz hat nicht nur Väter: zur Erinnerung an Elisabeth Selbert, in: Antje Huber (Hg.): Verdient die Nachtigall Lob, wenn sie singt?, Stuttgart 1984, S. 81-85.
Schüller, Elke: Wer stimmt bestimmt? Elisabeth Selbert und die Frauenpolitik der Nachkriegszeit [Ausstellungskatalog], Wiesbaden 1996.