Die Ehe als Streitfall
von Kerstin Wolff
Dieses Dossier wurde im Rahmen der Ausstellung „Frei leben! Die Frauen der Boheme 1890-1920“ der Monacensia München erstellt.
Debatten um Freiheit oder Bindung?
Heute scheint der Streit um die Ehe beigelegt zu sein. Das ist auch einfach, denn die Ehe, als die durch den Staat besonders geschützte Lebensform, ist heute für so viele Paare möglich wie noch nie. Aus einer Institution, die lediglich für finanziell gut gestellte, gemischtgeschlechtliche Paare möglich war, ist heute die Ehe für alle geworden.[2] Seit Juni 2017 können auch gleichgeschlechtliche Paare heiraten und das finanzielle Polster des Paares spielt in den meisten Fällen wohl weniger eine Rolle als noch in der bürgerlichen Versorgungsehe des 19. Jahrhunderts. .
Diese neue Offenheit verdeckt den Blick darauf, dass immer schon um die Ehe gerungen wurde. Auch die liberal-bürgerliche Frauenbewegung um 1900 musste sich zu dieser Institution verhalten und ihre Position klären.[3] Dies war umso nötiger geworden, weil im Jahr 1900 das neue Bürgerliche Gesetzbuch in Kraft trat und damit ein Familienrecht umgesetzt wurde, welches extrem ehefrauenfeindlich war. In allen Angelegenheiten der Ehe – von den Finanzen über die Kinder bis zum gemeinsamen Hausstand – hatte nur der Ehemann ein Entscheidungsrecht, er hatte sogar das alleinige Verfügungsrecht über das Vermögen, welches die Ehefrau in die Ehe eingebracht hatte.[4] Kein Wunder also, dass sich gerade die radikale Frauenbewegung und Teile einer linken Boheme pauschal gegen die Ehe aussprachen, was für die bürgerliche Gesellschaft eine massive Infragestellung einer ihrer Grundlagen darstellte. Denn die Ehe sollte – so die bürgerliche Theorie – die alleinige Lebensform von Familien sein und vor allem der einzige Ort, an dem Sexualität ausgelebt werden sollte; vor allem für die Frau. Wie verliefen nun die Debatten in der liberal-bürgerlichen Frauenbewegung zu diesem Problemkreis?
Abschaffen oder Reformieren?
1905 erschien das Buch: „Ehe? Zur Reform der sexuellen Moral“. Die Namen der Autorinnen und Autoren, die sich hier im Inhaltsverzeichnis finden, waren damals einschlägig bekannt. Und mit Hedwig Dohm als Autorin war es sogar gelungen, eine prominente Leitfigur zu gewinnen, die weit über die Kreise der Frauenbewegung hinaus bekannt war. Neben diesem „Zugpferd“ publizierte Anita Augspurg über den Reformgedanken zur sexuellen Moral, Helene Stöcker bezog sich auf das Liebesideal der Romantik und Adele Schreiber, Käthe Schirmacher und Gretel Meisel-Heß entfalteten Ideen über die dringend notwendige Ehereform bzw. über die freie Ehe und die Sexualmoral der Frau.[5] In der Einleitung wurde dargelegt, warum diese Schrift veröffentlicht wurde: „Die bürgerliche Moral, die die sexuelle Betätigung in die engen Fesseln der Ehe gezwängt hat, und die das in heißer Liebe erzeugte uneheliche Kind brandmarkt, muß umgeformt werden, denn unter dem erschwerten Kampfe ums Dasein, der durch die moderne Lebensführung bedingt ist, gelingt es nicht mehr jedem geschlechtsreifen Individuum, eine Ehe einzugehen.“[6] Das Buch war eine schonungslose Abrechnung mit dem bürgerlichen Ehemodell und empfahl die Ehe abzuschaffen.
Ganz anders sahen dies Autorinnen eines anderen Sammelbandes, der 1909 erschien und den Titel trug: „Frauenbewegung und Sexualethik“.[7] In der Einleitung nahmen die Autorinnen implizit Stellung zum 1905 erschienenen Sammelband, in dem sie schrieben: „Die bestehenden Zustände, die einen inneren und äußeren Wandel dringend notwendig erscheinen lassen, haben eine Anzahl der widerstreitendsten Reformideen gezeitigt, einen heftigen Prinzipienkampf hervorgerufen.“[8] Die Beiträgerinnen dieses Bandes gehörten zur Crème de la Crème der bürgerlichen Frauenbewegung des deutschen Kaiserreiches. Diese vielbeschäftigten Frauen hatten sich nicht ohne Grund der Mühe unterzogen, ihre Positionen in einem gemeinsamen Werk zu versammeln. Die Debatte über die Stellung der bürgerlichen Frauenbewegung zur Ehe hatte gerade einen Höhepunkt erreicht und die von den ‚Radikalen‘ als ‚Gemäßigte‘ bezichtigten Protagonistinnen sahen sich genötigt, nun auch ihre Position darzulegen. Sie verstanden sich als Majorität innerhalb der Bewegung „die nach wie vor in der Ehe die höchste sittliche und die allein der sozialen Verantwortlichkeit voll genügende rechtliche Norm anerkennt, und (… für die; K.W.) bei allen praktischen Reformvorschlägen und sittlichen Forderungen die Vertiefung und soziale Festigung der Ehe das höchste Ziel ist.“[9]
Geht es um die Ehe?
Aber geht es bei dieser Debatte denn tatsächlich allein um die Reformfähigkeit der Ehe? Bei genauerer Lektüre kann daran durchaus gezweifelt werden, denn immer wieder kamen die verschiedenen Protagonistinnen, sowohl die „Gemäßigten“ als auch die „Radikalen“ auf die Prostitution zu sprechen. Diese war um 1900 eine der wichtigsten gesellschaftlichen Fragen, und viele Diskursstränge verbanden sich hier. Warum aber wurde gerade zu dieser Zeit so heftig um dieses „Gewerbe“ gerungen? Und was hat die bürgerliche Ehe damit zu tun?
Die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen gingen davon aus, dass das Problem der Prostituierten in den wachsenden Großstädten Europas merklich zugenommen hatte. Vor allem in den rasch wachsenden Metropolen wie Berlin, Hamburg oder München entwickelte sich die Prostitution zu einer viel beachteten und diskutierten Erscheinung. Die „gewerbliche Unzucht“ rückte aber auch deswegen zunehmend ins Visier der Gesellschaft, weil sich Ärzte und Sozialpolitiker:innen zunehmend Gedanken über die Volksgesundheit machten. Die um sich greifenden Geschlechtskrankheiten, vor allem die unheilbare Syphilis standen dabei im Zentrum der Betrachtungen. Die (weibliche) Prostitution wurde dabei als der Hauptinfektionsherd betrachtet und dementsprechend versucht, diese zu regulieren[10] und soziale und hygienische Kontrollmechanismen zu schaffen.[11]
Gerade die liberal-bürgerliche Frauenbewegung beteiligte sich sehr aktiv an diesem Diskurs, wobei sie in das Zentrum ihrer Überlegungen die Ehe rückte. Denn diese galt den einen als Bollwerk gegen die Prostitution und den anderen als deren auslösender Faktor. Es ging also nicht primär um die Frage, ob die Ehe noch immer die „richtige“ Art und Weise war, wie Mann und Frau zusammenleben sollten, sondern vielmehr darum, ob die Ehe in der Lage war, die Prostitution zu verhindern.
Dies sprach z.B. Adele Schreiber im Buch, welches die „Radikalen“ 1905 herausgegeben hatten, ganz dezidiert an: „Das Problem, das sich uns darstellt, in Erkenntnis der ausgedehnten Prostitution, des ausgedehnten zwar zahlenmäßig nicht zu erfassenden, aber keinem, der mit offenen Augen durch die Welt geht, verborgen bleibenden außerehelichen Liebeslebens, lässt sich nicht auf die Frage beschränken: ‚Wie soll die Ehe gestaltet werden, damit die Möglichkeit vieler guter Ehen gegeben werde?‘ sondern es muß heißen: ‚wie ist die Ehe umzugestalten, damit sie einen möglichst großen Teil des menschlichen Liebeslebens überhaupt umfasst?‘“[12] Auch die „gemäßigten“ Autorinnen versuchen die Frage nach einer Abschaffung der Prostitution zu beantworten, setzten aber andere Schwerpunkte. Vor allem Anna Pappritz, die als eine der größten Kennerinnen der Prostitutionsproblematik in Kaiserreich und Weimarer Republik gelten kann[13], argumentierte für die Beibehaltung der Ehe. Diese sei ein Bollwerk gegen die Prostitution: „Wenn heute der Kreis der Menschen, die in reiner Monogamie leben, noch klein ist, so beweist das nicht, daß die Ehe eine überwundene Kulturform ist, sondern, daß sie erst in der Entwicklung begriffen ist. [...] Die Einehe bedeutet für die Frau den ersten Sieg des sittlichen Prinzips über die rohe Willkürherrschaft des Mannes, den ersten Schritt auf dem Wege ihrer Anerkennung als gleichberechtigte Persönlichkeit.“[14]
Es war also nicht so sehr die Frage um die Form der Ehe, die die Mitglieder der bürgerlich-liberalen Frauenbewegungen umtrieb, als vielmehr die Frage, ob die bürgerliche Ehe in der Lage sei, die allmächtige Prostitution abzuschaffen. Während die „Radikalen“ dies verneinten und eine Öffnung der Lebens- und Liebesverhältnisse als Lösung propagierten, setzten die „Gemäßigten“ auf eine reformierte Ehe, in der Mann und Frau als Gleichberechtigte zusammenlebten und sich die Frage nach einem Ausleben außerehelicher Sexualität nicht mehr stellte.
So spannend der Streit um die Ehe um 1900 auch war und unterschiedliche Argumente im Diskurs prominent ausgefochten wurden: Letztendlich ist dieser Streit unentschieden ausgegangen. Denn obwohl die Ehe sowohl reformiert wurde als auch das Zusammenleben in einer „freien Ehe“ mit Kindern heute möglich ist, blickt Deutschland auf einen expandierenden Prostitutionsmarkt. Hier scheinen andere Kräfte und Vorstellungen am Werk zu sein, die nur sehr rudimentär – wenn überhaupt – mit der Institution der Ehe zusammenhängen.
Fußnoten
Digitalisate (Auswahl)
Helene Lange: Die Frauenbewegung in ihren modernen Problemen, Leipzig 1908
Open Access
Röwekamp, Marion: Gedachte Grenzen : Ehescheidungsrechtsforderungen als Grenze innerhalb der bürgerlichen Frauenbewegung, 1918-1933, in: Ariadne. Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte, 2010, H. 57, S. 14-21.
Sochin-D'Elia, Martina: "Der Mann ist das Haupt der Familie, die Frau das Herz": Die katholische Vorbereitung auf das Leben als Frau", in: Ariadne. Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte, 2013, H. 63, S. 28-35.
Recherche zur Ehe
Im Online-Katalog META sind Literaturnachweise, Materialien und Digitalisate zur Ehe zu recherchieren.
Literatur (Auswahl)
Augspurg, Anita: Die Frau und das Recht, in: Die Frauenbewegung, 2. Jg., 1896, S. 157.
Bäumer, Gertrud u.a.: Frauenbewegung und Sexualethik. Beiträge zur modernen Ehekritik, Heilbronn 1909.
Dohm, Hedwig u.a.: Ehe? Zur Reform der sexuellen Moral, Berlin 1905.
weiterführende Literatur (Auswahl)
Heinrich, Elisa: Intim und respektabel - Homosexualität und Freundinnenschaft in der deutschen Frauenbewegung um 1900 (Sexualities in History – Sexualitäten in der Geschichte - Band 001), Göttingen 2022.
Cordes, Oda: Öffentlichkeit zur Weimarer Zeit : Frauen bewegen in der Ehe- und Familienrechtspolitik, in: Femina politica. Zeitschrift für feministische Politik-Wissenschaft, 2016, 25. Jg., H. 2, S. 112-120.
Wolff, Kerstin: Anna Pappritz (1861-1939). Die Rittergutstochter und die Prostitution, Sulzbach Taunus 2017.