Marie Calm
von Cornelia Wenzel
Marie Calm gehörte zu den frühen Wegbereiterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung in der Mitte des 19. Jahrhunderts und prägte neben Louise Otto-Peters, Auguste Schmidt und anderen den Allgemeinen Deutschen Frauenverein (ADF) in seinen ersten Jahrzehnten. Als Pädagogin, aber auch als Schriftstellerin setzte sie sich für bessere Mädchen- und Frauenbildung und für die Professionalisierung des Lehrerinnenberufes ein.
Eine Kindheit in der nordhessischen Provinz
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Marie Calm kam am 3. April 1832 in Arolsen (heute Bad Arolsen) zur Welt, einem kleinen Städtchen im damaligen Kurfürstentum Waldeck, von dem sie selber sagte: „während meiner Jugendzeit führte es in seiner Abgeschiedenheit vom großen Weltverkehr ein obskures Dasein.“[2] Ihre Einschätzung bezog sich darauf, dass Arolsen einerseits sehr provinziell, andererseits aber kulturell durchaus nicht unbedeutend war und Künstler wie Christian Daniel Rauch und Wilhelm von Kaulbach hervorgebracht hatte.
Marie Calms Vater war Kaufmann und zudem Bürgermeister der 2000-Einwohnergemeinde. Ihre Mutter „eine heitere, geistesfrische, ungemein liebevolle Frau ergänzte und unterstützte ihren Gatten aufs Beste in dieser Aufgabe, und die Kinder genossen, in jeder Weise durch die Verhältnisse begünstigt, den unschätzbaren Vorzug einer freien, sorglosen glücklichen Jugendzeit.“[3] Marie wuchs gemeinsam mit einer Schwester und einem Bruder auf, die Talente der Kinder „wurden nach allen Richtungen hin ausgebildet, und ein geistig anregender Verkehr, sowohl im häuslichen, wie im Freundeskreise, begünstigte namentlich die Entwickelung der hochbegabten Marie.“[4] Trotz provinzieller Abgeschiedenheit bekam Marie Calm offenbar eine für ein Mädchen jener Zeit ungewöhnlich gründliche Bildung. Sie besuchte das Steyersche Institut, eine private Mädchenschule, deren Leiterin Ida Speyer eine begnadete und sehr engagierte Lehrerin gewesen sein muss. Hier wurden die Keime für Marie Calms Lebensweg als Pädagogin gelegt; sie hat viele Jahre später mit dem Artikel Eine Lehrerin von Gottes Gnaden der von ihr so sehr geschätzten Lehrerin ein kleines Denkmal[5] gesetzt und ihr auch eines ihrer Bücher gewidmet.[6]
Lehrjahre im Ausland
Folgerichtig reifte in dem jungen Mädchen der Wunsch, selbst Lehrerin zu werden. Eine geregelte Ausbildung gab es dafür Mitte des 19. Jahrhunderts noch nicht. Marie Calm arbeitete zunächst als Hilfslehrerin am Steyerschen Institut, tat dann aber doch bald den Schritt aus der Provinz in die Welt. „Zur gründlichen Erlernung der französischen Sprache sandten sie die Eltern auf ihren dringenden Wunsch ein Jahr nach Genf in das Institut von Frau Gotar. Mit tüchtigen Kenntnissen ausgerüstet, nahm sie dann eine Stelle als Erzieherin nach England an, in der sie drei Jahre verblieb. (…) Auf ein Jahr kehrte sie alsdann in’s Elternhaus nach Arolsen zurück. Da bat sie eine Jugendfreundin, die sich nach Rußland verheiratet hatte (…) [sie] nach Moskau zu begleiten. Dort blieb sie drei Jahre und leitete die Erziehung der Kinder der Freundin.“[7]
Nachdem sie so als Hauslehrerin und Erzieherin Berufspraxis gesammelt und Sprachen erlernt hatte, arbeitete Marie Calm an verschiedenen Mädchenschulen in Deutschland. 1865 ließ sie sich schließlich in Kassel (damals noch Cassel) nieder, wo ihre zwischenzeitlich verwitwete Mutter und ihre verheiratete Schwester lebten.
Die Lehrerin
Marie Calm hat sich mit dem Beruf der Lehrerin in ihrer Zeit intensiv auseinandergesetzt und dessen Professionalisierung vorangetrieben. 1869 gründete sie gemeinsam mit Auguste Schmidt den Verein Deutscher Lehrerinnen und Erzieherinnen, er ist als ein früher Versuch zu sehen, die Lage von Lehrerinnen zu analysieren und Initiativen zur fachlichen Verbesserung des Unterrichts, aber auch zur pekuniären Absicherung von Lehrerinnen zu ergreifen. Es ging dem Verein um drei Forderungen: „Vermehrung und Verbesserung der Lehrerinnen-Seminarien, Erhöhung der Gehälter und Ausdehnung des Wirkungskreises“[8]. Der von Marie Loeper-Housselle, Helene Lange und wiederum Auguste Schmidt über 20 Jahre später ins Leben gerufene Allgemeine Deutsche Lehrerinnen Verein (ADLV) hat ungleich größeren Einfluss entwickeln können, doch hat Calms Initiative 1869 dazu beigetragen, die Probleme überhaupt erst einmal zu thematisieren. Mit der Stellung der Lehrerinnen hat sich Marie Calm nicht nur im Verein, sondern auch in Artikeln und Vorträgen auseinandergesetzt.
Der Casseler Frauenbildungsverein
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Als Marie Calm in Kassel ansässig geworden war, kam sie in Kontakt mit den Leipziger Frauen, die 1865 den Allgemeinen Deutschen Frauenverein (ADF) gegründet hatten. 1869 trug sie die Ideen des ADF in ihr Kasseler Umfeld und organisierte dort dessen sehr erfolgreiche dritte Wanderversammlung. In seiner Folge wurde der Casseler Frauenbildungsverein (CFBV) gegründet, der faktisch als Ortsgruppe des ADF fungierte.[9] Der CFBV wurde schnell aktiv und erfolgreich, er konnte in wenigen Jahren 200 Mitglieder werben, um die Jahrhundertwende waren es 350. Direkt nach der Vereinsgründung begann der Vorstand mit der Planung für eine Mädchenschule und richtete erste Kurse ein. Die hatten sich im Februar 1870 bereits zu einer Schule ausgewachsen, zwar mit dem Ziel „... die Schülerinnen zu eigenem Denken [anzuregen]“[10], doch den Anfang und das Herzstück bildeten erst einmal Handarbeiten und Hauswirtschaft. Sowohl Marie Calm als auch ihre Mitarbeiterin und Nachfolgerin Auguste Förster (1848-1926) waren überzeugt von der Notwendigkeit fundierter hauswirtschaftlicher Kenntnisse für Mädchen. Damit sollten diese nicht nur in die Lage versetzt werden, später den eigenen Haushalt zu führen, sondern auch ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu steigern und sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. In der Satzung des Vereins war als einer der Vereinszwecke „die Vermittlung des Vorstandes zur Erlangung von Stellen für die Schülerinnen“[11] verankert. Deshalb richtete der CFBV nicht nur eine Fachschule für Handarbeiten (Flicken und Stopfen, Weißstickerei, Bügeln, später Maschinenähen, aber immer ergänzt mit allgemeinbildenden Kursen wie etwa Literatur und Geographie) und eine Kochschule ein, sondern ergriff auch praktische Maßnahmen für die Zeit nach der Ausbildung. Die Schülerinnen der Kochschule boten einen ‚Mittagstisch für berufstätige Damen‘ an, präsentierten also ihre Erzeugnisse direkt in der Öffentlichkeit und waren damit als Könnerinnen ihres Faches wahrnehmbar. Die Schülerinnen der Fachschule präsentierten ihre Produkte regelmäßig in gut besuchten Ausstellungen, konnten also über diesen Weg ihr Können zeigen.
Die Schule war über viele Jahrzehnte erfolgreich und existiert noch heute , inzwischen aber schon lange koedukativ und mit gänzlich veränderter Aufgabenstellung. Um 1920 ging sie in den Besitz der Stadt Kassel über, seit 1956 ist sie nach Elisabeth Knipping (1869-1951) benannt, die nach Auguste Förster die Leitung von Verein und Schule übernommen hatte.
Organisatorin im Allgemeinen Deutschen Frauenverein
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Marie Calm galt als „der gute Genius des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins“[12], sie war von 1875 bis zu ihrem Tod Mitglied des Vorstandes und vertrat den ADF auch auf den Verbandstagen der deutschen Frauenbildungs- und Erwerbsvereine und dem Lehrertag.[13] Nach ihrem erfolgreichen Debut 1869 in Kassel übernahm sie als Vorsitzende des Präsidiums für die Frauentage die Organisation der Wanderversammlungen des ADF. Von ihren Zeitgenossinnen wurde ihr dafür eine besondere Qualifikation bescheinigt: „Gern ging sie als Pionierin in die Städte, in denen der nächste Frauentag abgehalten werden sollte. Und stets gelang es ihrem feinen Takt, ihrem sicheren Blick, die richtigen Personen herauszufinden und mit ihrer warmen Begeisterung und ihrer klaren überzeugenden Rede sie so für die Frauensache zu erwärmen, daß sie alsbald eine kleine Gemeinde bildeten, die dem Frauentage die Stätte bereiteten. Durch diese sorgsame Vorarbeit waren dann die Geister und Herzen willig gemacht, die Saat der neuen Gedanken aufzunehmen. Nur so erklärt sich auch der großartige Erfolg, daß bei jeder Wanderversammlung des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins ein neuer Frauenbildungsverein entstand. Diese Lokalvereine bezeichneten als Etappen den zurückgelegten Weg der Frauenbewegung und verteidigten zugleich als vorgeschobene Posten die Sache der Frauenbildung und Aufklärung und führten ihr immer neue Streitkräfte zu.“[14] Louise Otto-Peters schätze die Mitgliederzahlen des ADF 1877 auf „mindestens 11 - 12.000“[15], zu dieser Entwicklung dürfte Marie Calm mit „ihrer liebenswürdigen Weiblichkeit und feinsinnigen Entschiedenheit“[16] einiges beigetragen haben. Auf dem Vereinstag 1873 wurde gar vorgeschlagen, das Zentrum des ADF von Leipzig nach Cassel zu verlegen. „In der nichtöffentlichen Versammlung, an der nur Mitglieder teilnahmen, stellten die Leipziger Vorsteherinnen vereint den Antrag, den Vorort in eine andere Stadt zu verlegen und daselbst einen anderen Vorstand zu wählen und schlugen dazu Cassel vor. Frl. Calm sprach aber dagegen und lehnte ihrerseits auf das Bestimmteste ab.“[17]
Die Schriftstellerin
Neben der Pädagogik war Marie Calm von der Literatur fasziniert, sie schrieb – teilweise unter dem Pseudonym Marie Ruhland – Romane , Gedichte und Benimmbücher für junge Mädchen. „Eine Reihe von Skizzen und Erzählungen“, urteilte Lina Morgenstern, „bekunden ein hübsches Formtalent, eine scharfe Beobachtungsgabe und anmutige Schilderung, mit feinem Humor gewürzt. Sie verstand es ernste, oft bittere Wahrheiten in ein scherzhaftes Gewand zu kleiden, was auch ihren Vorträgen ein eigenartiges Gepräge gab und sie zur geschätzten Mitarbeiterin vieler Zeitschriften machte.“[18]
Auch mit ihren literarischen Texten verfolgte Marie Calm pädagogische Ansprüche: „… der Roman soll zur Erheiterung des Lebens, nicht aber zur täglichen Beschäftigung dienen; er nimmt bei unserer geistigen Nahrung gewissermaßen die Stelle des Kuchens ein, der, hier und da genossen, sehr wohl mundet, … aber zur alleinigen Nahrung gemacht, uns den Magen verdirbt“[19]. Eine Frau sollte nur solche Romane lesen, „die das Leben mit wahren Farben malen, die ihr Menschen zeigen, deren reines, ideales Streben sie zur Nachahmung auffordert, welche, von einem erhabenen edlen Geiste durchdrungen, auch ihren Geist erheben und veredeln.“[20] Keine Groschenromane also, sondern Erbauungsliteratur – und solche wollte sie auch mit ihren eigenen Geschichten produzieren. Marie Calms Frauenbild, ihre Vorstellungen vom Verhältnis der Geschlechter und der gesellschaftlichen Stellung von Frauen lassen sich daher nicht nur aus ihren Fachartikeln, sondern ebenso aus ihren literarischen Werken herauslesen. Es waren die Vorstellungen der frühen bürgerlichen Frauenbewegung in Deutschland, und zwar die des sehr gemäßigten Flügels. Sie waren im Kern auf bessere, vor allem höhere Bildung und die Schaffung von angemessenen Erwerbsmöglichkeiten für notgedrungen unverheiratet bleibende Frauen ausgerichtet, wobei Ehe und Familie als eigentliche Wirkungsstätte und ureigenste Bestimmung der Frau unangefochten blieben.
Früher Tod und schmaler Nachlass
Marie Calm wurde nur 55 Jahre alt, sie starb 1887 überraschend an einer Herzschwäche. Es scheint, als habe sich ein Wunsch erfüllt, den sie einst in einem Gedicht ausgedrückt hatte:
„Ich möchte sterben in den Lebens Fülle,
Eh noch der Mittag sich zum Abend neigt,
Eh die vergängliche, die schwache Hülle,
Die Spuren der verlebten Jahre zeigt.“[21]
Ihre tiefe Verbundenheit mit dem ADF zeigte sich noch posthum: sie vermachte dessen Stipendienfonds ein Legat von 1.000 Mark. Dieser Fond, der bereits in den Jahren zuvor von anderen Seiten nicht unerhebliche Spenden bekommen hatte, diente dazu, „deutsche Frauen und Mädchen, die sich zur Maturität vorbereiten, oder schon Medizin studieren“[22] zu unterstützen.
Marie Calm hinterließ erstaunlich wenige Spuren. Ein schriftlicher Nachlass blieb nicht erhalten, über ihr Leben und Wirken gibt es kurze, von ihren Zeitgenossinnen Anna Plothow, Alice Bousset und Johanna Waescher erstellte Portraits. In den Nachrufen wurde sie überschwänglich gelobt und ihr früher Tod als großer Verlust für die Frauenbewegung bezeichnet, in der heutigen Forschung wird sie als deren Protagonistin nur am Rande wahrgenommen. Gelegentlich findet sie als Schriftstellerin Erwähnung in literarischen Nachschlagewerken und einige ihrer Werke sind inzwischen digital zugänglich. In der Region war Marie Calm lange in Vergessenheit geraten, inzwischen wird wieder an sie erinnert. In Kassel und Bad Arolsen sind Straßen nach ihr benannt worden, in Baunatal ein Eltern-Kind-Heim. Und im Umfeld der Kasseler Universität hat sich ein Verein zur Förderung von Frauen in Naturwissenschaft und Technik den Namen Marie Calm Verein gegeben.
Die Neue Frauenbewegung hat Marie Calm in den 1980er Jahren wiederentdeckt, auch hier wurde aber überwiegend ihre regionale Bedeutung wahrgenommen und weit weniger ihr nicht zu unterschätzender Einfluss auf die ersten Jahrzehnte des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins.
Fußnoten
Lebenslauf
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3. April 1832 Geburt in Arolsen/ Waldeck
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ab ca. 1850 Auslandsaufenthalte als Lehrerin und Erzieherin in der Schweiz, England und Russland
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1861 Rückkehr nach Arolsen
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1865 Umzug nach Kassel
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1867-1875 Ausschussmitglied des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins
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Pfingsten 1869 Mitgründerin des Vereins deutscher Lehrerinnen und Erzieherinnen
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Oktober 1869 Gründung des Casseler Frauenbildungsvereins
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Oktober 1869 Teilnahme am 3. Frauentag des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins in Cassel (Generalversammlung)
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1869-1887 Vorsitzende des Casseler Frauenbildungsvereins
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1875-1887 im Vorstand des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins
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1878 Teilnahme am Verbandstag deutscher Frauenbildungs- und Erwerbsvereine in Wiesbaden
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1880 Teilnahme am Verbandstag deutscher Frauenbildungs- und Erwerbsvereine in Berlin
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1883 Teilnahme am Verbandstag deutscher Frauenbildungs- und Erwerbsvereine in Breslau
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22. Februar 1887 Tod in Kassel
Digitalisate (Auswahl)
Programmzettel zur 13. Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins, 1885
Recherche
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Literatur von Marie Calm
Calm, Marie: Die höheren Töchterschulen Englands, in: Die Lehrerin in Schule und Haus, 2.1885/1886, S. 225-230.
Calm, Marie: Bellas Blaubuch, Berlin 1883.
Calm, Marie: Bella's Blue-Book, translated from Mrs. J.W. Davis, New York 1890.
Calm, Marie: Die Stellung der deutschen Lehrerinnen, Berlin 1870.
Calm, Marie: Leo, Band 1, Berlin 1876.
Calm, Marie: Leo, Band 2, Berlin 1876.
Calm, Marie: Leo, Band 3, Berlin 1876.
Calm, Marie: Weibliches Wirken in Küche, Wohnzimmer und Salon, Berlin 1879.
Calm, Marie: Eine Lehrerin von Gottes Gnaden, in: Die Lehrerin in Schule und Haus, 2.1885/1886, Heft 18. S- 563-572.
Calm, Marie: Die Sitten der guten Gesellschaft, Stuttgart 1886.
Literatur über Marie Calm
Bousset, Alice: Zwei Vorkämpferinnen für Frauenbildung, Hamburg 1893.
Plothow, Anna: Die Begründerinnen der deutschen Frauenbewegung, Leipzig 1907.
Waescher, Johanna: Wegbereiter der deutschen Frau, Kassel 1931.
Wahlfeldt, Andrea/ Willerding, Rita: Mädchenbildung in Frauenhand, Kassel 1987.