Zur Geschichte des Frauenwahlrechts in Deutschland
von Kerstin Wolff
Auf den ersten oberflächlichen Blick scheint der verlorene Erste Weltkrieg der Auslöser für das Frauenwahl- und stimmrecht in Deutschland gewesen zu sein. Denn es war der Rat der Volksbeauftragten, der am 12. November 1918, mitten in den Wirren der Revolution, erklärte, dass "alle Wahlen zu öffentlichen Körperschaften (...) fortan nach dem gleichen, geheimen, direkten Wahlrecht auf Grund des proportionalen Wahlsystems für alle mindestens 20 Jahre alten männlichen und weiblichen Personen zu vollziehen (sind; K.W.)."[2] Diese Regelung fand auch wenige Wochen später im neuen Wahlgesetz Anwendung. Dort wurde formuliert: "Wahlberechtigt sind alle deutschen Männer und Frauen, die am Wahltag das 20. Lebensjahr vollendet haben."[3]
Mit diesen knappen Sätzen war eine große Wahlrechtsreform auf den Weg gebracht, das preußische Dreiklassenwahlrecht abgeschafft und mit einem Federstrich das aktive Frauenwahl- und das passive Frauenstimmrecht eingeführt worden. Würde man aus dieser Episode allerdings schließen, dass den deutschen Frauen das Frauenstimmrecht quasi in den Schoss gefallen ist, dann würde man einen jahrzehntelangen Kampf negieren, den sowohl Einzelfrauen als auch alle Flügel der Frauenbewegung bereits im 19. Jahrhundert begonnen hatten. Die Einführung des Frauenwahlrechts in Deutschland im November 1918 ist vielmehr als eine Etappe auf dem langen Weg der Demokratisierung zu verstehen, als Prozess, der ungefähr 100 Jahre vor der Einführung begann und auch nicht 1918/19 endete. Denn, wie wir heute wissen, ist nur durch die Möglichkeit, aktiv zu wählen und passiv gewählt zu werden, die Gleichberechtigung der Geschlechter nicht zu erreichen gewesen.
Wo aber begann der Frauenwahlrechtskampf; welches historische Ereignis löste ihn aus?
Es ist sicher nicht zu viel gesagt, dass es die Ideen der französischen Revolution waren, die ein Nachdenken darüber, ob auch Frauen ein politisches Mitspracherecht haben sollten, möglich machten. Mit der Revolution war eine generelle Debatte darüber angestoßen worden, wie eine Gesellschaft von ‚Gleichen‘ aufzubauen sei. Es war ihr Ausschluss aus dem Versprechen nach ‚Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit‘, der den Widerspruch von Frauen anstieß. Recht schnell mussten die politisch interessierten Frauen dieser Zeit nämlich erkennen, dass sie nicht unter die Brüderlichkeit gezählt wurden. Besondern bekannt geworden (allerdings auch erst seit den Forschungen der Frauengeschichte[4]) ist der Fall von Olympe de Gouges.
Olympe de Gouges' Forderungen
Diese wurde am 7. Mai 1748 in Montauban, Südfrankreich, geboren und kam 1770 nach Paris, wo sie in den 1780er Jahren als französische Schriftstellerin mit emanzipatorischen Schriften an die Öffentlichkeit trat. Besonders bekannt wurde sie dank ihrer politischen Schriften; vor allem das 25-seitige Büchlein mit dem Titel „Die Rechte der Frau“, das am 14. September 1791 erschienen, machte sie stadtbekannt. Herzstück des Textes war die „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“, der in seinem Aufbau die „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ imitierte, die bereits 1789 verabschiedet worden waren. Die Schrift von de Gouges war eine „Herausforderung an die Männerwelt, aber auch an Frauen“ und gilt bis heute als „Schlüsseldokument in der Geschichte der Frauen, der Frauenbewegung und des feministischen Denkens; darüber hinaus kann er auch als ein Schlüsseldokument des modernen politischen Denkens überhaupt gelten“[5] – so schätzt es die Historikerin Gisela Bock ein. In dieser Schrift wird explizit das Frauenwahlrecht gefordert und eine selbstverständliche Mitwirkung der Frauen in den Parlamenten. Olympe de Gouges überlebte ihre Schrift gerade einmal um knapp zwei Jahre. Aufgrund ihrer Schriften und ihrer darin geäußerten politischen Meinung wurde sie am Nachmittag des 3. November 1793 auf der Guillotine hingerichtet.
Erste deutsche Pionierin: Louise Otto
In Deutschland war eine der ersten, die sich für das Wahlrecht für Frauen aussprachen die 1848er Revolutionärin Louise Otto (später Otto-Peters). Louise Otto war am 26. März 1819 in Meißen als jüngstes Kind des Juristen Fürchtegott Wilhelm Otto und seiner Frau Christiane Charlotte, geb. Matthäi, geboren worden. Bereits mit 16 Jahren war sie Vollwaise und als dann ihr Verlobter Gustav Müller im Jahr 1840 plötzlich verstarb, entschloss sich Louise Otto, ihr Leben der sozialen und politischen Schriftstellerei zu widmen. Mit ihren sozialkritischen Texten geriet sie schon recht früh in Konflikt mit den Zensurbehörden, die sie zwangen, ihre Romane und Erzählungen zu entschärfen.
In der Revolutionszeit von 1848 stellte sich Louise Otto bedingungslos auf die Seite der Revolution. Sie notierte in dieser Zeit in ihr Tagebuch: „Ich erkenne meine Mission in dieser Zeit in ihrem Dienst mich an die Spitze der Frauen zu stellen. Alles was ich thue, ist in diesem Sinne.“[6] Trotz aller Revolutions-Euphorie erkannte sie sehr klar, dass der Ausschluss von Frauen aus dem politischen Geschehen in der Paulskirche in Frankfurt am Main ein Geburtsfehler der Revolution war. „Wenn ich auch noch gar nicht vom weiblichen Stimmrecht zu reden wage, aber als Schmach empfand ich es doch, daß Frauen nach wie vor von politischen Versammlungen ausgeschlossen waren u. man sie nur auf den Gallerien duldete.“[7] Diesem Gedanken gab sie 1849 in der von ihr herausgegeben Frauen-Zeitung Ausdruck, als sie in der ersten Nummer ihr Programm vorstellte und „das Recht der Mündigkeit“ für die Frau und „die Selbständigkeit im Staat“ forderte.[8] Damit sprach sie explizit das Wahlrecht auch für Frauen an und dies in einer Zeit, in der selbst die Revolutionäre in Frankfurt am Main die Frauen von der politischen Partizipation ausgeschlossen hatten. Dieser Sicht blieb sie treu und auch in der Zeitschrift »Die sociale Reform«, herausgegeben von Louise Dittmar, forderte sie unumwunden das Wahlrecht für Frauen, denn „wir Frauen sind ein Theil dieses Volkes.“[9] Aber wie die Stimme ihrer französischen Schwester im Geiste auch, verhallte ihre Stimme in dieser Angelegenheit ungehört.
Hedwig Dohms publizistischer Kampf
Die nächste, die mit spitzer Feder publizistisch das Wahl- und Stimmrecht für die deutschen Frauen forderte, war die berühmte Hedwig Dohm, die die Antifeministen ihrer Zeit publizistisch bekämpfte und flammende Plädoyers für Frauenrechte in Staat und Gesellschaft hielt.
Im Jahr 1831 geboren, heiratete Marianne Adelaide Hedwig Schlesinger 1853 den leitenden Redakteur beim Satireblatt "Kladderadatsch" Wilhelm Friedrich Ernst Dohm und bekam in den nächsten Jahren fünf Kinder. Durch ihren Mann kam sie in Kontakt mit der geistigen Elite der Berliner Gesellschaft und zusammen mit ihm führte sie einen damals stadtbekannten und beliebten Salon. Aber das Leben als Mutter, Hausfrau und geistreiche Gastgeberin füllte Dohm nicht aus. Sie begann zu schreiben und verfasste zahlreiche politische Essays, Romane, Novellen und sogar einige Märchen. Bekannt geworden ist sie vor allem für ihre scharfzüngige politische Literatur. Schon die Titel verraten die Richtung ihrer literarischen Passion: "Was Pastoren von den Frauen denken", "Der Jesuitismus im Hausstande", "Die wissenschaftliche Emancipation der Frau" und "Der Frauen Natur und Recht" sind ihre Werke übertitelt, Werke, mit denen sie sich nicht nur Freunde und auch nicht nur Freundinnen gemacht hat. 1876 erschien ihr Werk: „Der Frauen Natur und Recht“, in dem sie sich intensiv mit dem Frauenstimmrecht beschäftigte. Dieser Text ist ein Fanal für das Frauenwahlrecht, der mit den Vorurteilen seiner Zeit hart ins Gericht geht. Mit der Schrift wollte sie beweisen, dass das Wahlrecht tatsächlich auch ein Recht der Frau ist. Denn: „Warum soll ich erst beweisen, daß ich ein Recht dazu habe? ... Der Mann bedarf, um das Stimmrecht zu üben, eines bestimmten Wohnsitzes, eines bestimmten Alters, eines Besitzes, warum braucht die Frau noch mehr?“[10] Diese Sprache, diese Argumentation waren etwas ganz Neues. Hedwig Dohm drehte den Spieß ganz einfach um und versuchte Argumente zu finden – natürlich vergeblich – warum Frauen das Stimmrecht nicht erhalten sollten und bewies so ‚durch die Blume‘, dass der Ausschluss von Frauen aus der Sphäre der Politik letztendlich auf Vorurteilen beruhte und keine legitime Grundlage hatte. Darüber hinaus wies Dohm der ab den 1890er Jahren aufblühenden Frauenbewegung den Weg. Sie schrieb: „In jeder größeren Stadt Englands und der Vereinigten Staaten bestehen Stimmrechtsvereine der Frauen. Nicht so in Deutschland. … Will die deutsche Frau, das immermüde Dornröschen, ewig schlafen? … Fordert das Stimmrecht, denn nur über das Stimmrecht geht der Weg zur Selbstständigkeit und Ebenbürtigkeit, zur Freiheit und zum Glück der Frau.“
Die Organisationsphase: Die Frauenbewegung und ihre Aktivitäten
Die bürgerliche Frauenbewegung hatte ihren ersten Organisationsschub in den 1860er und 1870er Jahren, zu einer ersten Blüte kam es allerdings erst nach der Aufhebung der Sozialistengesetze 1890. Ab da entstanden im gesamten deutschen Kaiserreich alternative und reformerische Gesellschaftsentwürfe. Frauen hatten aber besondere Bedingungen, denn in einigen Ländern des Wilhelminischen Reiches waren Vereinsgesetze in Kraft, die Frauen ausdrücklich untersagten, sich politisch zu betätigen. Diese Einschränkung fiel erst 1908, als im Wilhelminischen Deutschland ein reichsweit einheitliches Vereinsgesetz erlassen wurde und dabei die Sonderbestimmungen gegen Frauen aufgehoben wurden. Entgegen der Ergebnisse früherer Forschungen haben sich nicht nur die Protagonistinnen der ‚Radikalen‘ für das Frauenwahlrecht eingesetzt. Auch die als bürgerlich-gemäßigt geltenden Frauen wandten sich früh den Forderungen nach einem Wahlrecht für Frauen zu. Ein Beispiel ist hier die Lehrerin Helene Lange, die 1896 eine Publikation zum Stimmrecht veröffentlichte.[11] 1902 nahm der große Dachverband BDF den Kampf für das Frauenwahlrecht in sein Programm auf. Im gleichen Jahr gründete Anita Augspurg in Hamburg den ersten Frauenwahlrechtsverein, den Deutschen Verein für Frauenstimmrecht und von diesem Moment an folgte eine Flut von Publikationen. Der Verein, der sich 1904 in den Deutschen Verband für Frauenstimmrecht umbenannte, setzte vor allem auf Öffentlichkeits- und Aufklärungsarbeit, die mithilfe von Flugblättern, Zeitschriften und Broschüren erfolgte. Sogar eine eigene Postkarte und eine eigene kleine Stimmrechtsmarke machten auf sein Anliegen aufmerksam.
Positionskämpfe in der bürgerlichen Frauenbewegung
In der Rückschau ist es nicht ganz leicht, die Abstimmungsprobleme und Debatten, die sich innerhalb der bürgerlichen Frauenbewegung um das Frauenstimm- und -wahlrecht drehten, zu verstehen. Im Nachhinein erscheint es selbstverständlich, für alle Menschen das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht zu fordern. In der damaligen Situation jedoch war diese Forderung durchaus umstritten, denn in Preußen wurde noch bis 1918 das Abgeordnetenhaus durch das Dreiklassenwahlrecht gewählt. Das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht stellte also das Prozedere in Preußen massiv in Frage. Und da das Land Preußen das größte Land innerhalb des Kaiserreichs war, war es durchaus entscheidend, was dort passierte.
Es war schließlich die Frage nach dem Preußischen Dreiklassenwahlrecht, die zur Spaltung der bürgerlichen Frauenwahlrechtsvereine führte. 1907 hatte der Deutsche Verband für Frauenstimmrecht das „das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht“ als Programmpunkt auf der Tagesordnung der Mitgliederversammlung. Gleichzeitig wurde auf dieser Sitzung auch eine eigene Zeitschrift aus der Taufe gehoben, die „Zeitschrift für Frauenstimmrecht“, herausgegeben von Anita Augspurg.
Als 1908 endlich die Sonderbestimmungen in den Vereinsrechten fielen, blühte die organisierte Stimmrechtsbewegung auf. Klar war allen bürgerlichen Frauenstimmrechtlerinnen, dass die Arbeit der Frauen für das Wahlrecht nicht an eine Partei geknüpft sein konnte, die Arbeit musste also parteiübergreifend sein. In dieser Situation geriet das Preußische Dreiklassenwahlrecht zum Prüfstein der Bewegung. Denn Frauen aus dem preußischen Landesverband argumentierten, dass die Forderung nach dem gleichen Wahlrecht für alle eine zu große Hürde für die preußischen Frauen darstellen würde. Sie plädierten stattdessen dafür, das gleiche Wahlrecht anzustreben, wie die Männer es hatten. Diese Position war höchst umstritten und so spalteten sich die Befürworterinnen eines Drei-Klassenwahlrechts auch für Frauen in einem neuen Stimmrechtsverband ab. Die Deutsche Vereinigung für Frauenstimmrecht hatte das Licht der Welt erblickt. Damit aber nicht genug der Spaltung. Als auch im Deutschen Verband für Frauenstimmrecht die Forderung nach einem demokratischen Wahlrecht ins Rutschen geriet, spalteten sich die Verfechterinnen eines gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts ab und gründeten 1913 einen dritten Stimmrechtsverband, den Deutschen Stimmrechtsbund.
Somit war die Situation entstanden, dass vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland drei Frauenstimmrechtsvereine existierten. Minna Cauer, die im deutschen Stimmrechtsbund aktiv war, fasste diese Entwicklung im Februar 1914 mit den Worten zusammen: „Es ist nunmehr genügend Auswahl vorhanden, so daß jeder sein Feld sich aussuchen kann; das konservative, das gemäßigte und das demokratische. Rechnen müssen die Frauen also jetzt mit diesen drei Richtungen der bürgerlichen Frauenstimmrechtsbewegung in Deutschland.“[12]
Das war natürlich Wasser auf die Mühlen der Gegner und Gegnerinnen des Frauenwahlrechts. Vor allem der Bund zur Bekämpfung der Frauenemanzipation, 1912 gegründet, verstand als eine seiner Hauptaufgaben den Kampf gegen das Frauenwahlrecht, so nachzulesen im Programm: „Der Kernpunkt unseres Bundesprogramms ist (…) der Kampf gegen das Frauenstimmrecht, die reife Frucht am Baume der Emanzipation.“[13] Hauptprotagonisten waren der Lehrer Ludwig Langemann und Prof. Friedrich Sigismund, die in ihren Schriften immer wieder auf die Gefahren des Frauenwahlrechts hinwiesen.
Der sozialdemokratische Weg
Da hatten es die Sozialdemokratinnen schon einfacher als die zerstrittenen bürgerlichen Frauenstimmrechtlerinnen. Die SPD hatte bereits auf dem Erfurter Parteitag von 1891 das Frauenwahl- und -stimmrecht in ihr Programm aufgenommen. Vor allem Klara Zetkin sprach sich für das Frauenstimmrecht aus – wobei sie immer klar machte, dass sie dieses Recht vor allem für die ausgebeuteten Arbeiterinnen forderte und nicht für die ‚privilegierten‘ Frauen aus dem Bürgertum.
Um Propaganda für das Frauenstimmrecht zu machen, gingen die Sozialistinnen ganz eigene Wege und schufen sich einen jährlichen Tag, den Internationalen Frauentag, der als ‚Kampftag‘ für das international zu erreichende Frauenwahlrecht gedacht war. Der erste internationale Frauentag fand dann am 19. März 1911 in Deutschland und in anderen Ländern statt, Ziel war es, überall Propaganda für das Frauenstimmrecht zu machen.
Beim Versuch, diesen Kampftag zu institutionalisieren, zeigte sich aber, dass die SPD zwar das Frauenstimmrecht begrüßte, dass die Genossinnen aber immer für diesen Beschluss kämpfen mussten – ein Selbstläufer war in der SPD die Forderung nach dem Frauenstimmrecht also nicht. Was aber entscheidender war, war die Stellung, die die Gleichberechtigung im Ideengebäude einer aufzubauenden sozialistischen Gesellschaft einnahm. Die Frauenfrage wurde nämlich – und zwar von Männern wie von Frauen – zum Nebenwiderspruch erklärt, was bedeutete, dass es sich nicht lohnte, für eine Gleichberechtigung der Geschlechter in der bürgerlichen Gesellschaft zu kämpfen. Denn in den Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels war der Hauptwiderspruch das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital. Nur durch die Aufhebung dieses Hauptwiderspruches könne der Nebenwiderspruch, nämlich die Unterdrückung der Frau, aufgehoben werden. Dies hatte zur Folge, dass sich viele Sozialistinnen und Sozialisten nicht mit einer Agitation für die Frauenemanzipation ‚aufhalten lassen wollten‘, sondern lieber gleich an einer grundsätzlichen Veränderung arbeiteten. Es wäre sinnvoller, gleich alle Kraft auf die Erreichung der neuen Gesellschaftsform zu richten und sich nicht in Gleichberechtigungskämpfen zu verzetteln. So war also der Kampf um das Frauenwahlrecht auch unter den SPD-Genossinnen und -Genossen nicht unumstritten, aber Klara Zetkin als vehemente Verteidigerin dieser Forderung konnte letztendlich den internationalen Kampftag für das Frauenwahlrecht durchsetzen.
Auch die bürgerlichen Frauenstimmrechtlerinnen organisierten sich international; so wurde bereits 1904 in Berlin der Weltbund für Frauenstimmrecht (International Woman Suffrage Alliance (IWSA) – ab 1926: International Alliance of Women) gegründet. Auf regelmäßig stattfindenden internationalen Tagungen kamen die Aktivistinnen zusammen, um über die besten Strategien und Aktionen zu berichten.
Der Krieg verändert erstmal alles...
Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges beendete zunächst alle Bemühungen um das Frauenwahlrecht. Die Männer zogen an die Front und die (meisten) Frauen organisierten und engagierten sich an der sogenannten Heimatfront; ein kleiner Teil engagierte sich für den Frieden. Dieses Erlahmen der Wahlrechtsforderungen änderte sich schlagartig, als der deutsche Kaiser 1917 in seiner Osterbotschaft eine demokratische Wahlrechtserweiterung in Aussicht stellte, die Frauen und ihre Forderung dabei aber ignorierte.
Da es im Krieg durch die gemeinsame Arbeit im Nationalen Frauendienst zu einer Annäherung von Sozialdemokratinnen und bürgerlichen Frauenrechtlerinnen gekommen war, wurde es nun für beide Seiten möglich, sich in der Frage des Stimmrechts gemeinsam zu engagieren. So kam es ab 1917 zu einem breiten Frauenbündnis, welches gemeinsam das Frauenwahlrecht erreichen wollte. Im Herbst des Jahres veröffentlichten die Frauen der Mehrheitssozialdemokratie (die SPD hatte sich im Weltkrieg in eine MSPD und eine USPD = Unabhängige Sozialdemokratie) gespalten), der Reichsverband für Frauenstimmrecht und der Deutsche Stimmrechtsbund eine gemeinsame Erklärung zur Wahlrechtsfrage. Dass es den Frauen ernst war, wurde im letzten Satz der Erklärung deutlich, dort postulierte das neue Frauenbündnis nämlich: „Dieser ersten gemeinsamen Willenskundgebung der Frauen werden so lange weitere folgen, bis der Sieg unserer Sache errungen ist.“[14] Zwischen Dezember 1917 und November 1918 kam es in vielen größeren Städten immer wieder zu gemeinsamen Kundgebungen zum Frauenwahlrecht; allerdings ohne Erfolg. Deshalb starten die Stimmrechtlerinnen im Oktober 1918 einen letzten Versuch. Sie schickten eine Eingabe an den Reichskanzler Prinz Max von Baden, in der um eine Unterredung nachgesucht wurde.[15] Die Liste der Unterzeichnerinnen war beeindruckend: Marie Juchacz für die Mehrheitssozialdemokratinnen (MSPD), Anita Augspurg für den Deutschen Bund für Frauenstimmrecht, Gertrud Hannah für das Arbeiterinnensekretariat der Generalkommission der Freien Gewerkschaften, Getrud Bäumer für den Bund deutscher Frauenvereine, Lida Gustava Heymann für den Deutschen Frauenausschuß für dauernden Frieden, Helene Lange für die Frauenorganisation der Fortschrittlichen Volkspartei, Klara Mende für die nationalliberalen Frauen und Marie Stritt für den Deutschen Reichsverband für Frauenstimmrecht. Wie Elke Schüller feststellt, handelte es sich „um die umfassendste klassenübergreifende Allianz von Frauen aus den verschiedenen politischen Lagern, die es bis dahin gegeben hatte!“[16]. Zu einer Unterredung mit dem Reichskanzler kam es dann allerdings nicht mehr, am 12. November 1918 erklärte der Rat der Volksbeauftragten, der das politische Heft in die Hand genommen hatte, das künftige demokratische Wahlrecht, wodurch das aktive und passive Frauenwahlrecht eingeführt worden war.
Um Frauen auf ihr neues Recht aufmerksam zu machen und Fragen zu beantworten, kamen vor den ersten allgemeinen Wahlen Aufklärungsschriften heraus, die über das Wahlgeschehen aufklären wollten. So hatte sich aus den Reihen der Frauenbewegung ein ‚Ausschuß der Frauenverbände Deutschlands‘ gegründet, der mit zahlreichen Flugblättern und Wahlaufrufen sich direkt an die Wählerinnen richtete.
Die Wahl zur Deutschen Nationalversammlung
Am 19. Januar 1919 war es dann soweit, die Wahl zur Deutschen Nationalversammlung fand statt. Sie war die erste reichsweite Wahl nach dem Verhältniswahlrecht und die erste, in der Frauen das aktive und passive Wahlrecht hatten. Ziel war die Bildung einer verfassungsgebenden Nationalversammlung. In die verfassungsgebende Nationalversammlung wurden 37 Frauen aus 5 Parteien gewählt, vier Abgeordnete rückten nach.
Die ersten Parlamentarierinnen waren:
• Für die SPD: Lore Agnes, Anna Blos, Minna Bollmann, Wilhelmine Eichler, Frieda Hauke, Else Höfs, Marie Juchacz, Wilhelmine Kähler, Gertrud Lodahl, Frida Lührs, Ernestine Lutze, Toni Pfülf, Johanne Reitze, Elfriede Ryneck, Elisabeth Röhl, Minna Martha Schilling, Louise Schroeder, Clara Schuch, Anna Simon und Johanna Tesch. Nachrückerinnen waren Marie Behncke und Hedwig Kurt.
• Für die USP: Anna Hübler und Luise Zietz. Nachrückerin war Helene Grünberg.
• Für die Deutsche Demokratische Partei: Marie Baum, Gertrud Bäumer, Elisabeth Brönner, Elise Ekke, und Katharina Kloss. Nachrückerin war Marie-Elisabeth Lüders.
• Für die Deutsch-Nationale Volkspartei: Margarete Behm, Anna von Gierke, Käthe Schirmacher.
• Für das Zentrum – vergleichbar mit der heutigen CDU: Hedwig Dransfeld, Agnes Neuhaus, Maria Schmitz, Christine Teusch, Helene Weber und Marie Zettler.
• Für die Deutsche Volkspartei: Clara Mende.
Obwohl sich bald herausstellte, dass das Frauenwahlrecht nicht die allgemeine Gleichberechtigung der Geschlechter brachte, veränderte es die politische Landschaft des Landes nachhaltig. Für die Gleichberechtigung war ein weiterer Schritt notwendig, der allerdings erst 1949 gelang: Die Formulierung der unumschränkten Gleichberechtigung in den Verfassungen sowohl der DDR als auch der BRD.
Fußnoten
Digitalisate (Auswahl)
Helene Lange: Intellektuelle Grenzlinien zwischen Mann und Frau - Frauenwahlrecht, Berlin 1899
Hedwig Dohm: Erziehung zum Stimmrecht der Frau, Berlin 1910
Friedrich Sigismund: Frauenstimmrecht, Leipzig 1912
Merkblatt: Wahlgesetze. Sonderdruck aus Zeitschrift für Frauenstimmrecht, 1912
Recherche zum Frauenwahlrecht
Im Online-Katalog META sind Literaturnachweise, Materialien und Digitalisate zum Frauenwahlrecht zu recherchieren.
Literatur über das Frauenwahlrecht (Auswahl)
Bock, Gisela: Das politische Denken des Suffragismus: Deutschland um 1900 im internationalen Vergleich, in: dies., Geschlechtergeschichte der Neuzeit. Ideen, Politik, Praxis, Göttingen 2014, S. 168-203.
Bock, Gisela: "100 Jahre Frauenwahlrecht: Deutschland in transnationaler Perspektive", Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 66. Jg., 2018, H. 5, S. 395-412.
Canning, Kathleen: The Order and Disorder of Gender in the History of the Weimar Republic, in: Gabriele Metzler / Dirk Schumann (Hg.): Geschlechter(un)ordnung und Politik in der Weimarer Republik, Bonn 2016, S. 59-79.
Canning, Kathleen: Das Geschlecht der Revolution – Stimmrecht und Staatsbürgertum 1918/19, in: Alexander Gallus (Hg.): Die vergessene Revolution von 1918/19, Göttingen 2010, S. 84-116.
Heinsohn, Kirsten: Konservative Parteien in Deutschland 1912 bis 1933: Demokratisierung und Partizipation in geschlechterhistorischer Perspektive, Düsseldorf 2010.
Heinsohn, Kirsten: Parteien und Politik in Deutschland. Ein Vorschlag zur historischen Periodisierung aus geschlechterhistorischer Sicht, in: Gabriele Metzler / Dirk Schumann (Hg.): Geschlechter(un)ordnung und Politik in der Weimarer Republik, Bonn 2016, S. 279-298.
von Hindenburg, Barbara: Die Abgeordneten des Preußischen Landtags 1919–1933. Biographie – Herkunft – Geschlecht, Frankfurt a. M. 2017.
Lauterer, Heide-Marie: Parlamentarierinnen in Deutschland 1918/19–1949, Königstein/Taunus 2002.
Richter, Hedwig/ Wolff, Kerstin (Hg.): Frauenwahlrecht. Demokratisierung der Demokratie in Deutschland, Hamburg 2018.
Schaser, Angelika: Zur Einführung des Frauenwahlrechts vor 90 Jahren am 12. November 1918, in: Feministische Studien 1/2009, S. 97-110.
Wolff, Kerstin, 13.09.2018: Geschichte des Frauenwahlrechts in Deutschland, online-Dossier im Digitalen Deutschen Frauenarchiv.
Wolff, Kerstin, 12.10.2018: Auch unsere Stimme zählt! Der Kampf der Frauenbewegung um das Wahlrecht in Deutschland in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 68. Jg., 2018, H. 42, S. 11-19. [Kerstin Wolff für "Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de by-nc-nd/3.0/"]
Wolff, Kerstin: Unsere Stimme zählt ! Die Geschichte des Deutschen Frauenwahlrechts, Überlingen 2018.
Rosenbusch, Ute: Der Weg zum Frauenwahlrecht in Deutschland, Baden-Baden 1998.