ISBN
978-3-926068-30-9
Kosten
23,00 €
Umfang
272 Seiten
Erschienen
Mai 2021
Heft 77
Unfruchtbare Debatten?
150 Jahre gesellschaftspolitische Kämpfe um den Schwangerschaftsabbruch
Vor 150 Jahren wurde er in seiner damals ›reichsweiten‹ Gültigkeit ›geboren‹, der viel umstrittene und hart umkämpfte § 218 StGB, der den Schwangerschaftsabbruch in Deutschland unter Strafe stellte. Dieser Paragraf ist sicher einer der bekanntesten, aber was wissen wir über den schon seit über einem Jahrhundert geführten Kampf gegen ihn?
Schon relativ früh setzte sich die Frauenbewegung in Deutschland mit diesem Paragrafen auseinander, fand aber nur schwer zu einer einheitlichen Position. Vor allem die Not des Proletariats, die mit jedem Kind weiter anwuchs, beherrschte in der Weimarer Republik die Debatte und führte dazu, dass der ›Klassencharakter‹ der Abtreibung ins Zentrum rückte. Die Forderung schien klar: Die Streichung des § 218 oder eine Fristen- bzw. Indikationsreglung, die Straffreiheit bei einem Abbruch in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten ermöglichte. Trotz aller Bemühungen wurde dies nicht erreicht.
Bezeichnend ist es, dass zu den ersten Gesetzen, die von den Nationalsozialisten 1933 in Kraft gesetzt wurden, die § 219 und § 220 StGB gehörten, die die Abtreibung sowie das ›Werben‹ und Verkaufen von Mitteln zur Abtreibung verboten. Es wurde auch entscheidend, welche Frau schwanger werden konnte: Erblich belastete oder ›rassisch minderwertige‹ Menschen sollten sich nicht fortpflanzen dürfen, was sich u. a. im ›Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses‹ ausdrückte.
Nach einer zeitbedingten Lockerung nach 1945, in denen (manche) Ärzt:innen versuchten, die Not ungewollt Schwangerer zu lindern, verzweigten sich die juristischen Regelungen in den beiden deutschen Staaten ab 1949. Während die BRD konsequent an der Verankerung des Schwangerschaftsabbruchs im Strafgesetzbuch festhielt, wurde in der DDR eine Fristenlösung verabschiedet. Als diese beiden Wege 1990 in der ›Vereinigung‹ zusammenstießen, zeigte sich, dass die Siegermentalität der Bundesrepublik dazu führte, Errungenschaften der DDR zu negieren. Eine konservative Sicht auf das Abtreibungsrecht setzte sich durch, vorangetrieben von Juristen und dem Bundesverfassungsgericht. Der ausgehandelte Kompromiss um den § 218 von 1992 – rechtswidrig aber straffrei – hat inzwischen seine Akzeptanz verloren.
Das 150. Jubiläum des § 218 sowie die aktuellen Anzeigen, Anklagen und Verurteilungen aufgrund des im § 219a immer noch geltenden sogenannten Werbeverbotes sind Anlass, uns diesem originär frauenbewegten Thema zuzuwenden. Unser Blick richtet sich dabei sowohl auf die geschichtliche Entwicklung in Deutschland, als auch auf die in anderen Ländern. Zur aktuellen Debatte haben wir ein Interview mit der Kasseler Frauenärztin Nora Szász geführt, die gemeinsam mit ihrer Praxiskollegin Natascha Nicklaus wegen Verstoß gegen den § 219a angezeigt worden war.
Es braucht – so machen die unterschiedlichen Beiträge deutlich – dringend neue Regelungen. Das Heft verstehen wir auch als Aufruf an alle, das Thema Schwangerschaftsabbruch nicht aus den Augen zu verlieren. Das Ringen um weibliche Selbstbestimmung geht in eine neue Runde!
Redaktion
Dr. med. Marion Hulverscheidt, Dr. Kerstin Wolff
Mit Beiträgen von
Leonie Kemper, Jelena Wagner, Anna Domdey, Raphael Rössel, Ulrike Busch / Daphne Hahn, Isabel Heinemann, Claudia Roesch, Gisela Hermes / Ildiko Szász, Anja Titze, Michael Zok, Ulrike Lembke und einem Interview mit der Kasseler Frauenärztin Nora Szász.