Kosten
9,50 €
Umfang
70 Seiten
Erschienen
Mai 2009
Heft 55
»Die sittliche Waage ist aus dem Gleichgewicht«
Gesellschaftliche Debatten um 1900
»Die Sittlichkeitsfrage ist eine der wichtigsten und ernstesten, welche die denkenden Menschen beschäftigt; beruht doch auf ihr das leibliche und geistige Wohl eines Volkes.«
Diese Aussage von Anna Pappritz aus dem Jahr 1898 illustriert, wie existentiell die Menschen vor 100 Jahren die Bedrohung durch Geschlechtskrankheiten wahrnahmen. In einer Zeit, in der nicht frei über Sexualität gesprochen wurde, bewirkte die Zunahme von sexuell übertragbaren Infektionskrankheiten, dass eine Gesellschaft lernen musste, bisher nicht Gesagtes auszusprechen. Schriftsteller:innen, Ärzt:innen, Reformer:innen und natürlich die verschiedenen Flügel der Frauenbewegungen lernten über das Unaussprechliche zu reden.
Dabei entstand um 1900 eine gesamtgesellschaftliche Sittlichkeits-Bewegung, die in viele Flügel und Fraktionen zerfiel. Zwar beschäftigten sie sich alle mit der Sittlichkeitsfrage, die Antworten waren jedoch sehr unterschiedlich. Besonders das Problem der Prostitution in den Großstädten polarisierte. Je nach politischem und moralischem Blickwinkel wurde die Ursache für Prostitution als unheilbares Krankheitssymptom einer dem Untergang geweihten Gesellschaft angesehen, als ein rein medizinisch zu behandelndes Problem, oder als Ausdruck einer sich schnell reformierenden Gesellschaft betrachtet.
In diesem Zusammenhang wurde auch das Geschlechterverhältnis des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts verhandelt und es wurde über Motive sich prostituierender Frauen diskutiert und gefragt, warum Männer Prostitution nutzten. So stellten sich Fragen, die eng mit den Vorstellungen von Männer- und Frauenrollen zusammenhingen: etwa ob und wie die weibliche Prostitution zu verhindern sei, warum sie überhaupt existierte, ob die Gründe dafür in der sozialen Not oder gar in der Veranlagung der Prostituierten zu suchen sei und auch, ob der Mann aufgrund seiner Veranlagung ein Recht auf solche Angebot habe.
Dass Frauen und Männer auf diese Fragen unterschiedliche Antworten gaben, scheint zunächst selbstverständlich zu sein. Es bildete sich ein ›Frauenstandpunkt‹ heraus, der schnell als diskreditierender Kampfbegriff benutzt wurde. Mit dem ›Frauenstandpunkt‹ wurde im deutschen Kaiserreich der Abolitionismus etikettiert, der ursprünglich eine gemischtgeschlechtliche Bewegung war. In Deutschland aber hatten sich dem Abolitionismus mehr Frauen als Männer angeschlossen, was auch damit zu erklären ist, dass der Bund deutscher Frauenvereine den Abolitionismus ab 1902 als seine offizielle politische Leitlinie akzeptierte.
In der vorliegenden Ariadne stellen wir die vielfältigen Diskussionen vor, die rund um die Frage nach einer neuen Sittlichkeit um 1900 geführt wurden und es zeigt sich, dass die Auseinandersetzung mit Sexualität und Geschlechterrollen bis heute nicht an Brisanz verloren hat.
Redaktion
Bettina Kretzschmar M. A./ Dr. Kerstin Wolff
Mit Beiträgen von
Bettina Kretzschmar, Annette Dietrich, Dirk Götting, Kerstin Wolff, Sabine Jenzer, Hiram Kümper, Susanne Michl, Cornelia Klose-Lewerentz, Astrid Ackermann, Eva Maria Silies.